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 12/09/2020

Oliver Kern: "Wir dürfen uns nicht spalten lassen"

Oliver Kern: "Wir dürfen uns nicht spalten lassen"

Die Kommunalwahlen in NRW stehen bevor und es zeichnet sich ab, dass es ein spannendes Rennen um die Wählerstimmen geben wird. Es haben sich für die Wahl zum Oberbürgermeister in Essen von neun Parteien Kandidaten aufstellen lassen. Einer von diesen Kandidaten ist Oliver Kern (SPD), mit dem wir für unsere Leser ein kurzes Interview geführt haben.

Herr Kern, Sie wollen Oberbürgermeister in Essen werden. Was sind die wichtigsten Themen in der Stadt?
Essen ist eine großartige Stadt voller Potenzial. Die meisten Menschen leben gerne hier. Dennoch sind viele Dinge in den letzten Jahren liegengeblieben. Es fehlen 2400 Kita-Plätze, viele Schulen sind in einem schlechten Zustand und wurden nicht rechtzeitig modernisiert. Der Verkehr läuft nicht richtig rund, es gibt zu viel Stau und ein Bus- und Bahnnetz, das dringend ausgebaut werden muss. Dazu bekomme ich viele Rückmeldungen über mangelnde Sauberkeit in den Vierteln. Hier hat der aktuelle OB zwar eine App aufgelegt, mit der man Müll melden kann. Leider hat er vergessen, das Personal für die Beseitigung aufzustocken.
Was mich persönlich aber am meisten umtreibt, ist die Tatsache, dass das Glück in Essen noch immer viel zu oft von der Postleitzahl abhängt. Im Norden machen nur 30% der Kinder Abitur, im Süden 90% hier müssen wir viel mehr für Chancengerechtigkeit und gleiche Lebensverhältnisse tun. Das ist enorm wichtig für den Zusammenhalt in unserer Stadt. Dieser hat zuletzt doch sehr gelitten.

Stichwort Zusammenhalt: Bei vielen Menschen ist das Sicherheitsgefühl gesunken, obwohl es statistisch weniger Kriminalität gibt. Zuletzt ist vor allem die sogenannte „Clan-Kriminalität“ in den Fokus gerückt. Wie erleben Sie diese Debatten? Was läuft schief?
Man kann grundsätzlich keine Politik gegen die Gefühle der Menschen machen. Gefühle haben Ursachen und Auslöser und diese gilt es zu finden und im Dialog zu lösen. Viele Menschen nennen jetzt oft „kriminelle Migranten“ als Grund für ihre Verunsicherung, aber ich glaube, dass es um etwas anderes geht. Und da bin ich wieder beim ungleich verteilten Glück. Dort, wo Menschen sich abgehängt und vernachlässigt fühlen, wo das Schwimmbad dicht gemacht hat, der Putz in den Schulen von der Decke fällt und es keinen Kitaplatz gibt, wächst der Frust. Und dafür werden dann oft Sündenböcke gesucht. Es ist eine Frage des Respekts, dass wir das überall in Essen mehr investieren, um die Lebensverhältnisse konkret zu verbessern.
Für das Sicherheitsgefühl würde es auch helfen, wenn die Essener Polizei nicht mehr jedes Jahr Stellen verlieren würde. Schon jetzt hat Essen so wenig Kripo-Beamte pro Kopf wie keine andere Großstadt in NRW. Außerdem muss das Personal des Ordnungsamts, das sich um Vermüllung, Ruhestörung und Vandalismus kümmert, aufgestockt werden und rund um die Uhr erreichbar sein. Die Debatte um Clan-Kriminalität verfolge ich mit Sorge. Klar, der Rechtsstaat muss wehrhaft sein und seine Regeln gelten für alle und müssen durchgesetzt werden. Aber die medienwirksamen Großrazzien bergen die Gefahr, dass jeder, der anders aussieht, von der weißen Mehrheitsgesellschaft als verdächtig angesehen wird. Wir dürfen diese „Sippenhaft“ und Stigmatisierung ganzer Bevölkerungsgruppen aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Herkunft nicht zulassen. Die Vielfalt hat uns im Ruhrgebiet stark gemacht. Die dritte Generation ist längst heimisch. Wir müssen wieder mehr Austausch schaffen, um gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Wir dürfen uns nicht spalten lassen. Wir alle sind Essen!

Wie wollen sie das angehen?
Ich komme aus sehr einfachen Verhältnissen, heute sagt man „prekär“ dazu. Als siebtes von zehn Kindern einer alleinerziehenden Mutter war ein gutes Leben für mich keine Selbstverständlichkeit. Deshalb weiß ich, wie wichtig es ist, dass Menschen grundsätzlich wieder mehr Chancen bekommen, etwas aus sich zu machen – egal wieviel Geld die Eltern haben oder wo sie herkommen. Gerade in Bezug auf migrantische Communities ist es dafür wichtig, zu wissen wo der Schuh drückt und welche Angebote benötigt werden.
Dies geschieht auch in erster Linie über Bildung. Deshalb fordert die SPD schon lange den schulscharfen Sozialindex: die besten Schulen müssen dort sein, wo wir die größten Herausforderungen haben, um sozialen Aufstieg über Bildung unabhängig der Herkunft für alle Menschen gleichermaßen zu ermöglichen.  Ich möchte z.B., dass auch Menschen, die schon länger hier leben, Sprachförderung bekommen können und in den Arbeitsmarkt integriert werden. Der Austausch mit Migrantenorganisationen muss intensiviert werden, weil eine starke Demokratie und ein hohes Zugehörigkeitsgefühl vor allem durch eine starke Zivilgesellschaft führt; wir haben in Essen viele Migrantenorganisationen, die wertvolle soziale, kulturelle und integrative Arbeit für die Menschen in unserer Stadt machen, zugleich muss der Integrationsrat deutlich besser in die Kommunalpolitik eingebunden werden. Hier gilt es, den Zusammenhalt in Vielfalt zu fördern und wieder mehr an einen gemeinsamen Tisch zu kommen. Das möchte ich anpacken. Ganz nach meinem Motto: Gleiches Glück für alle – mehr Respekt für jeden.

Von: Fatih Güvercin – (Almanya Bülteni) - Essen